
Besonders hart trifft es den Einzelhandel: Auf Einzelhandel und Mode entfällt fast die Hälfte aller Verstöße gegen die Barrierefreiheit. Die Folgen sind gravierend: Geldstrafen von bis zu 100.000 Euro, Reputationsschäden und – der eigentliche Schaden – Kunden, die Einkäufe abbrechen, bevor sie überhaupt zur Kasse gehen. In Ländern wie Frankreich und Österreich wurden bereits rechtliche Schritte gegen Unternehmen eingeleitet. Es wird erwartet, dass Klagen und behördliche Inspektionen auch in Deutschland zunehmen werden. Der Grund: Die EU-Mitgliedstaaten richten Marktüberwachungsbehörden ein, um die Anforderungen an die Barrierefreiheit durchzusetzen – die deutsche wird demnächst in Magdeburg eröffnet.
Ein Weckruf für den Handel
Die Zahlen aus unserer aktuellen Umfrage sprechen für sich: Über 80 Prozent der Deutschen haben bereits digitale Prozesse abgebrochen, weil eine Website, App oder digitale Inhalte nicht verständlich oder nutzbar waren – sei es beim Online-Kauf, bei der Reisebuchung oder beim Ausfüllen von Formularen. Und das betrifft nicht nur ältere Menschen. Selbst 62 Prozent der 18- bis 29-Jährigen stoßen regelmäßig auf Barrieren. Die Vorstellung, dass Barrierefreiheit ein «Seniorenproblem» sei, wurde eindeutig widerlegt.
Für Händler bedeutet das: Jeder unzugängliche Touchpoint kostet Umsatz. Jede Barriere ist ein Ausstiegsknopf. Barrierefreiheit ist kein soziales Nice-to-have, sondern ein greifbarer Leistungsfaktor. Einfach ausgedrückt: Barrierefreiheit ist Konversion.
Mehr als Compliance: Barrierefreiheit als Leistungstreiber
Rund 107 Millionen Europäerinnen und Europäer mit Behinderungen stellen eine unerschlossene Zielgruppe mit enormer Kaufkraft dar. Wer sie digital ausschließt, lässt Potenzial auf dem Tisch liegen. Wer sie jedoch erreicht, gewinnt neue Kunden und stärkt seine Marke. Barrierefreie Geschäfte bedeuten:
- größere Reichweite,
- weniger Kaufabbrüche,
- Bessere Markenwahrnehmung.
Denn digitale Barrierefreiheit schafft nicht nur Zugang, sondern auch Vertrauen – und Vertrauen konvertiert. Das BFSG kann der rechtliche Auslöser sein. Die eigentliche Chance liegt jedoch in den wirtschaftlichen Auswirkungen der digitalen Inklusion.
Fünf Sofortmaßnahmen für den Einstieg
Die gute Nachricht: Der Einstieg ist einfacher, als viele denken. Es geht nicht um Perfektion vom ersten Tag an, sondern darum, den ersten Schritt in die richtige Richtung zu machen. Diese fünf Maßnahmen schaffen sofort sichtbare Verbesserungen:
1. Schaffen Sie klare Strukturen
Wenn Überschriften und Inhalte chaotisch angeordnet sind, verliert der Mensch schnell die Orientierung. Klare Überschriften, eine einheitliche Reihenfolge und eine einfache Navigation helfen allen. Wichtig ist auch, dass sich Texte und interaktive Inhalte flexibel an die eingestellte Größe anpassen und jederzeit voll sichtbar bleiben.
2. Achten Sie auf kontrastreiche Sichtbarkeit
Hellgrauer Text auf weißem Hintergrund? Für viele schwer zu lesen. Text und Schaltflächen müssen deutlich hervorstechen – vor allem für Menschen mit Sehbehinderung.
3. Fügen Sie Beschreibungen zu Bildern und Untertitel zu Videos hinzu
Vielen Website-Bildern und -Grafiken fehlt ein erklärender Text im Hintergrund. Personen, die Screenreader verwenden, wissen dann nicht, was angezeigt wird. Unternehmen sollten daher immer einen kurzen, aussagekräftigen «Alt-Text» hinzufügen. Videos ohne Untertitel oder Transkripte sind für Menschen mit z. B. Hörbeeinträchtigungen unbrauchbar. Untertitel helfen auch allen Benutzern, wenn sie Videos unterwegs ohne Ton ansehen.
4. Aktivieren Sie die Tastatur- und Sprachsteuerung
Nicht jeder benutzt eine Maus. Einige navigieren nur mit einer Tastatur oder Sprachsteuerung. Wenn auf Schaltflächen oder Formulare auf diese Weise nicht zugegriffen werden kann, bleiben einige Benutzer ausgeschlossen. Alle Elemente sollten daher auch mit Tastaturnavigation oder Sprachsteuerung nutzbar sein.
5. Halten Sie Texte und Formulare verständlich
Bei der digitalen Barrierefreiheit geht es nicht nur um Technologie, sondern auch um das Verständnis von Inhalten. Unternehmen sollten ihre Texte daher in leichter Sprache anbieten, um neurodiverse Nutzer und Menschen mit Leseschwierigkeiten einzubeziehen. Gleiches gilt für Formulare, die oft sehr kompliziert sind, keine klaren Beschriftungen aufweisen oder keine hilfreichen Fehlermeldungen liefern. Sie sind in der Regel auch nicht für den Einsatz von Screenreadern optimiert. Die Folge: Die Nutzer brechen den Prozess ab. Einfache Felder, klare Anweisungen und verständliches Feedback bieten eine Lösung.
Bei diesen Maßnahmen handelt es sich nicht nur um technische Anpassungen. Sie drücken eine kundenzentrierte Haltung aus und signalisieren: Hier zählt jeder Nutzer.
Barrierefreiheit ist kein Projekt, sondern ein Prozess
Eines ist jedoch klar: Digitale Barrierefreiheit ist kein einmaliger, sondern ein kontinuierlicher Prozess – vergleichbar mit Datenschutz oder IT-Sicherheit. Websites ändern sich ständig: neue Inhalte, Updates, Produktseiten und Kampagnen. Jede Änderung kann neue Barrieren schaffen.
Daher sollten Sie regelmäßig überprüfen, schulen und optimieren. Das bedeutet, Barrierefreiheit fest in die Unternehmensprozesse zu integrieren – von der UX-Designphase über die Entwicklung bis hin zum Content-Upload. Spezialisierte Anbieter können hier wertvolle Unterstützung bieten und dafür sorgen, dass Barrierefreiheit nicht zu einer einmaligen Maßnahme, sondern zum Markenstandard wird.
Fazit: Wer Barrieren beseitigt, öffnet Märkte
Um es klar zu sagen: Digitale Barrierefreiheit ist kein moralischer Luxus mehr. Es ist Verpflichtung, Wettbewerbsfaktor und Wachstumshebel zugleich.
Das BFSG ist der regulatorische Auslöser. Aber der wahre Grund zum Handeln liegt im Geschäft selbst: Kunden, die bleiben, anstatt zu gehen. Marken, die verbinden, anstatt auszuschließen. Der Online-Handel erlebt derzeit einen deutlichen Wandel. Wer jetzt Barrieren abbaut, stärkt nicht nur seine Marktposition, sondern gestaltet auch aktiv eine digitale Zukunft mit, in die alle einbezogen werden. Oder um es kurz zu machen: Wer Barrieren beseitigt, öffnet Märkte.